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III. Kunst und reale Gegenwart

"Von realer Gegenwart" heißt ein vielbeachtetes Buch des Literaturwissenschaftlers George Steiner. Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Flut von sekundären Eindrücken und für das ursprüngliche Erleben von Sinn, gegen das Reden über Kunst und für das Betroffensein von Kunst. Botho Strauß, derzu Steiners Buch ein kostbares Nachwort geschrieben hat, faßt dessen These so zusammen: "Überall, wo in den schönen Künsten die Erfahrung von Sinn gemacht wird, handelt es sich zuletzt um einen zweifellosen und rational nicht erschließbaren Sinn, der von realer Gegenwart des Logos-Gottes zeugt."

Steiner geht es um die Befreiung des Kunstwerkes von der Diktatur der sekundären Diskurse, das heißt der Rezensionen, des Tagesjournalismus, des "Redensüber", es geht um die Wiederentdeckung des Kunstwerkes als realer Präsenz Gottes. Steiner spürt dem nach in Musik, Literatur, bildender Kunst. Kunst beruhte seit eh und je auf einem - meist nicht eigens bedachten, sondern vorausgesetzten - Vertrauen, dem Vertrauen, daß zwischen der Wirklichkeit derWelt und dem Wort des Menschen eine tragfähige Brücke besteht, daß das Wort (das gesprochene oder in Bild und Ton ausgedrückte) die Wirklichkeit widerspiegelt, bezeugt, nahebringt, daß die Wirklichkeit im Wort gegenwärtig ist.
Weil dem so ist, bedeutet das Wort (im umfassenden Sinn aller menschlichen Ausdrucksformen) immer schon Antwort: im Wort, besonders im Künstlerischen, antworten wir auf das, was sich uns zeigt, und diese Antwort hat immer auch etwas von Verantwortung: wir dürfen nicht beliebig antworten auf das, was sich uns zeigt.
Vertrauen und Verantwortung gehören zusammen. Das "Ur-Vertrauen" in die Gutheit und die Zuverlässigkeit der Wirklichkeit ist die Vorraussetzung dafür, daß wir ihr gegenüber auch Verantwortung tragen.
Diese Sicht gründet letztlich in der metaphysischen Überzeugung, die auf der ersten Seite der Heiligen Schrift zum Ausdruck kommt: daß Gott der Schöpferder Welt und der Menschen ist, und daß diese Welt und der Mensch als geschaffene "gut", ja "sehr gut" sind, daß der Mensch den Auftrag hat, alle Dinge zu benennen und daß er dazu fähig ist, weil sie sich ihm darbieten als das, was sie sind.

George Steiner nennt dies den "Vertrag" zwischen Wort und Wirklichkeit, und er zeigt, wie auf diesem Vertrauens- und Verantwortungsverhältnis alle großenWerke der Kunst basieren, die somit letztlich einen metaphysischen Grund haben. Erst in neuester Zeit sei dieser Vertrag gebrochen worden, als Künstlerund Philosophen darangingen, der Sprache und dem Kunstwerk jeden Wirklichkeitsbezug abzusprechen: die Sprache spricht nur mehr von sich selbst, das Kunstwerk verweist auf nichts anderes mehr als es selber, Text verweist wieder nur auf Text, Wort auf Wort, Bild auf Bild, keine Gegenwart Gottes, der Wirklichkeit und des Menschen zeigt sich mehr an. Kunst wird zum Spiel der Beliebigkeit, Sprache zerfällt in Sprachspiele, alles wird möglich, und damit auch gleichgültig. Die Freiheit der Kunst wird zwar gefordert, doch was ist Freiheit ohne Verantwortung?
Dem gegenüber erinnert Steiner daran, daß eine Begegnung mit wirklicher Kunst immer etwas zu tun hat mit Erschütterung, ja Überwältigung, mit Staunen und Ehrfurcht.
Das Kunstwerk, um ihm neu zu begegnen, sei zu behandeln wie ein Gast, ein Fremder, der plötzlich erscheint in unserem gewöhnlichen Alltag, dessen Ankunft Freude und leise Furcht begleiten. Ob man einem Kunstwerk begegnet sei, meinte Paul Valery, erkenne man daran, ob es einen im Zustand der Inspiriertheit zurückläßt.

Ein anderes Beispiel sind die Kultbilder, besonders die Ikonen. Nach alter Auffassung ist es legitim, ein Mutter-Gottes-Bild nicht nur als Bild, sondern als die Mutter Gottes selbst anzusprechen. Die Mutter, die ihrem Kind eine Marienstatue zeigt und sagt: "Das ist Maria", hat recht: das ist Maria, unter derGestalt von Holz, Farbe und Leinwand. Die Ikone ist, nach ostkirchlicher Auffassung, nicht so sehr ein Bildwerk, als vielmehr ein Fenster, durch das wir
Maria selbst erblicken. "Der Maler wendet seine ganze Kunst an, um einen Vorhang zu öffnen, die Vision zu ermöglichen."
George Steiners Buch ist eine große Ermutigung für alle, die sich darum bemühen, durch das Schaffen oder den Nachvollzug sakraler Kunst "einen Vorhang zu öffnen", durch den etwas verkostet wird vom Trost, von der Kraft und der Herrlichkeit von Gottes realer Gegenwart.

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Herausgegeben von der Kulturstelle der Erzdiözese Wien 1994
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