Der Ursprung des künstlerisch-historischen Erbes der
Kirche greift mit seinen Wurzeln auf die Ausübung
der Pastoral- und Evangelisierungsaufgabe der Kirche
zurück. Im kirchlichen Verständnis („mens") hilft
die Kunst, insbesondere die Sakralkunst, die
christliche Weisheit auszubilden und ist
privilegiertes Mittel der Evangelisierung. Sie
findet vorrangig Ausdruck im Kult, in der Kultur, in
der Katechese und in der Nächstenliebe. Denn,
„...wenn die Kirche die Kunst aufruft, die eigene
Mission zu vertreten, ist es nicht nur aus
ästhetischen Gründen, sondern um selbst dem
Zusammenhang der Offenbarung und der Menschwerdung
zu gehorchen". (Rede Johannes Pauls II. vor dem
Plenum der Päpstlichen Kommission für die
Kulturgüter der Kirche, 12. Oktober 1995).
Die Sprache der Kunst ist tatsächlich eine
universelle, absolute, offenbarende, theophanische,
diachronische,
ontologische, pfingstbezogene Sprache. Universell,
weil alle, da die Unwissenheit überwunden
ist, die
kathartische Botschaft der Schönheit verstehen
können. Absolut, da sie die transzendentale
Harmonie des
Seins offenbart, die den Glanz der Formen erreicht.
Offenbarend, da sie die Dinge in der
Verwirklichung
ihres Seins enthüllt
und nicht nur in der Scheinbarkeit des Phänomens.
Theophanisch,
da sie dazu führt, sich von der kontingenten
Beschränkung zu befreien, um in den Genuß des
Göttlichen
zu gelangen.
Diachronisch, da sie die Geschichte in den
verschiedenen kulturellen Stilen erzählt, die
zwischen Gott
und dem Menschen passiert ist. Ontologisch, da sie
das Sein in seiner vollen und erkennbaren
Verständlichkeit
ausdrückt. Pfingstbezogen, da sie sich nach der
mystischen Ekstase hin öffnet und zu uneigennützigem
Dienst an den Brüdern führt. Deswegen ist sie
Zeichen religiöser Freiheit und evangelikaler
Verkündigung, die sich in der Schrift und in der
Tradition verwirklicht.
Das künstlerische und historische Erbe der Kirche
entstand im Laufe der Jahrhunderte, einerseits dank
der spontanen Großzügigkeit der Armen, andererseits
dank der Spendenbereitschaft der
Wohlhabenden,
als Zeugnis des Glaubens der ganzen christlichen
Gemeinschaft. Es ist gleichzeitig
Ausdruck der
religiösen
Verehrung und der menschlichen Kreativität. Daraus
folgt die Tatsache, daß der
künstlerische
und historische Wert untrennbar von der
Glaubensüberzeugung ist; daraus folgt der
Ursprung von
Werken, die aus der fruchtbaren Verbindung zwischen
religiöser
und ästhetischer
Inspiration entstehen, wie man leicht in der Kunst
der Plastik, in der Musik, in der Architektur und in
den
literarischen und dramatischen Werken feststellen
kann. Die Kirche hat tatsächlich die menschliche
Kreativität
im künstlerischen Bereich stimuliert, wobei ihr
genau bewußt war, daß es sich um ein erstrangiges
Mittel handelt, die Seele zu ihrem Schöpfer und
Erlöser zu erheben.
Die Kirche hat also ihr ungeheures
künstlerisch-historisches Erbe geschaffen, um den
göttlichen Kult,
die christliche Katechese, die kulturelle
Weiterentwicklung, die Werke der Nächstenliebe im
Sinne eines
ganzheitlichen Humanismus zu fördern.
Zunächst erfüllen die Kulturgüter eine Funktion der
Katechese. Die Verkündigung des Evangeliums hat sich
in unzähligen Kunstwerken unter verschiedensten
Ausdrucksformen verwirklicht. Es genügt an die
Malerei
der „Biblia pauperum" zu denken. Beispiele von
Kirchen, die zu Katechesenschulen geworden
sind, lassen sich
bis ins Unendliche anführen!
Man hat richtig gesagt, daß unsere Kirchen oft ein
„gemalter Katechismus" sind. Ein jegliches Museum,
sei es öffentlich, sei es privat, bewahrt unzählige
Gemälde, die von der Botschaft des Evangeliums
inspiriert sind. Auch die zeitgenössische Kunst kann
mit dieser Verpflichtung, das Evangelium über die
Metapher der Schönheit zu verkündigen, fortfahren.
Jesus verwendete Gleichnisse, die der Sensibilität
seiner Zuhörer angemessen waren; die heutigen
Künstler
sollen die Gefühle zum Göttlichen hinlenken durch
Werke, die den Zeitgenossen verständlich
sind, und durch
eine Botschaft, die in perfekter Übereinstimmung
steht mit den Inhalten der authentischen
katholischen Lehre. Heutzutage wird ein besonderes
Gewicht gelegt auf die visuelle und massenmediale
Darstellung, deshalb soll man besonders die
katechetische Funktion des künstlerischen und
historischen
Erbes der Kirche betonen.
Es folgt eine
Kultfunktion. Diese stellt den Kern des religiösen
Phänomens dar, das, wenn es persönliche
und intime Dimensionen hat, dennoch notwendigerweise
auch gemeinschaftlichen und
öffentlichen
Ausdruck
findet. Die Tempel, die Bilder und die
Kirchengeräte, die liturgischen Bücher, die
religiösen
Mittel, die Werke der Plastik, die literarische
Produktion, die musikalischen Aufführungen
und der
Gesang, die sakralen Gewänder, die liturgischen
Gegenstände, werden geschaffen, um im göttlichen
Kult Verwendung
zu finden. Der erste Grund die Kunst zu nützen,
ist für die Kirche immer der kultische gewesen. Auch
die zeitgenössische Kunst ist demnach aufgerufen,
Inspiration und Kreativität im göttlichen
Kult zu finden, indem sie subjektivistische und
nihilistische Wege überwindet. Auch die Gegenwartskunst
soll dem Kult den Glanz der Schönheit
verleihen, in der Rücksicht auf den historischen Zusammenhang
im Gesamtbild der Kontinuität, der kirchlichen
Tradition, und des „sensus fidei" des Volkes.
Ein weiterer Grund ist die Förderung einer
katholisch inspirierten Kultur. Die Kultur ist die
Frucht intelligenten
Handelns des Menschen in der Auseinandersetzung mit
Seinesgleichen, mit der Welt, mit den religiösen
Instanzen. So soll sie einem organischen Programm
unterstehen, begründet auf
Voraussetzungen, die der vollkommenen materiellen
und geistigen Emanzipation der Einzelperson und
der gesamten Gesellschaft nützen. Die Verwirklichung
eines solchen Projektes schafft Mittel, die ein kulturelles
Erbe darstellen. Diese sind typischer Ausdruck der
humanen Spiritualität, durch die der Mensch nicht
nur das Weltschauspiel widerspiegelt, sondern auch
die Umwelt verändert, in der er lebt, indem er
ein
kulturelles und künstlerisches Erbe schafft, das
jede Generation genießen kann, die aber auch die
Pflicht hat, Rücksicht zu nehmen, zu bewahren und
wiederherzustellen.
Ganz wesentlich im kirchlichen Leben ist schließlich
die Ausübung der Nächstenliebe, deshalb hilft die
Kunst auch als Unterstützung der Werke der
Barmherzigkeit. Die künstlerische Arbeit erstreckt
sich auf
alle Bereiche
des Lebens, sodaß das Schöne jeden Augenblick des
Alltags erleichtert. Die christliche
Nächstenliebe
verlangt konkrete Bestätigungen und eine intensive
Zuneigung, die über das notwendige
Maß hinausgeht. Die Logik der christlichen
Nächstenliebe, die den Weg der Kunst eröffnet, ist
das paradigmatische
„Glas frischen Wassers" aus dem Evangelium, das die
Barmherzigkeit versinnbildlicht. Ein
Glas Wasser löscht den Durst. Ein Glas frischen
Wassers aber löscht den Durst angenehm. Deswegen
haben die geistige und leibliche Barmherzigkeit in
der Kunst ein empfindsames Instrument, um
Zufriedenheit zu vermitteln, nachdem die notwendigen
Bedürfnisse gestillt worden sind. Die Folge davon
ist, daß die Ausübung der Nächstenliebe die Sprache
der Gegenwart braucht, als Zeichen von
Aufmerksamkeit gegenüber den heutigen Generationen.
So entdecken wir das Geheimnis einer fruchtbaren
Arbeit über die Jahrhunderte: Der Kult, die
Katechese, die Nächstenliebe und die Kultur sind
konkrete Projektionen der drei grundlegenden
Tugenden: Glauben, Hoffnung und Liebe. Der Glaube
wurde im Laufe der Jahrhunderte in den großen
Kathedralen konkretisiert, genauso wie in den
schmucklosen Hüttenkirchen in den Missionsländern.
Die Hoffnung hat in unzähligen Bilddarstellungen der
christlichen Dogmen die tiefe Bedeutung ihrer
Existenz
gefunden. Die Nächstenliebe wurde in jenen
Kunstwerken bezeugt, die in den Dienst am
Mitmenschen gestellt wurden, vor allem an den Armen,
Kranken, Verlassenen, den Geringsten.
Trotz der unleugbaren Widersprüche dieser Zeit
scheint die Welt die wünschenswerte Phase der Vorbereitung
einer neuen Zivilisation zu erleben, da das Unheil
der Säkularisierung und gleicherweise die Sehnsucht
nach geistigen Verankerungen bewußt geworden sind.
Ihre Geburt ist absolut nötig, denn
was im 20.
Jahrhundert ererbt und erfunden worden ist, zeigt
offensichtliche Zeichen der Ermüdung
und
des Scheiterns trotz unzweifelhaft positiver
Gärungsprozesse und gesunder Erneuerungen.
In den heutigen Generationen besteht die Sehnsucht
nach Erneuerung, Engagement für den Frieden, Mut zur
Solidarität, Sinn für Toleranz, Streben nach
Spiritualität. Dies sind die Keime der Wahrheit, die
den Völkern christlichen Glaubens Hoffnung bringen
können. Nun, am Anfang des 3. Jahrtausends der
christlichen Epoche, hat die Menschheit das
dringendste Bedürfnis nach echter Schönheit,
hinausgehend
über vergängliche Wahrnehmungen, um sich wieder der
Kontemplation für Gott hinzugeben, dem
höchsten Wahren und höchsten Guten, und in dieser
Erfahrung die missionarische Kraft der Verkündigung
des Evangeliums wiederzufinden.
Vatikanstadt, 15. Jänner 2004
+ Mauro Piacenza
Titularbischof von Vittoriana
Präsident der Päpstlichen Kommission für die
Kulturgüter der Kirche
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